Bergcafé Reusten: Unter dem Banner der Kittelschürze - Ausgabe 595

2022-08-26 21:25:57 By : Mr. Stephen Meng

Als Neil Armstrong seinen Astronautenfuß auf den Mond setzte, stellte er zuerst eine Flagge der Vereinigen Staaten von Amerika auf. Über dem Bergcafé in Ammerbuch-Reusten flattert im Sommer 2022 als Fahne eine Kittelschürze.

Drei Monate zuvor waren es Hunderte von Kittelschürzen, die auf dem Reustener Kirchberg im Wind wehten. Seitdem er das Bergcafé 2018 neu eröffnete, sammelt Daniel Schürer die bunt gemusterte, strapazierfähige Arbeitskleidung für Hausfrauen der Nachkriegszeit. Und er trägt die Kittelschürze gerne selbst, wenn er die Besucher des Cafés bedient. Das löst Irritationen aus und soll es auch.

Schürer ist Künstler und das Bergcafé Reusten ist ein Ort mit Geschichte. Marie und Sophie Haupt, zwei ledige Schwestern, haben es bewirtschaftet von 1954 bis 1997: ­ eigenwillige, originelle Gastgeberinnen, resolut und aufgeschlossen, volkstümlich und unangepasst zugleich, echte Persönlichkeiten. Sophie verstarb 1997, Marie im Jahr 2003. Von Tübingen, selbst von Stuttgart her kamen Gäste, um zu vespern, zu plaudern. Dass jemand sich in ihrem Café betrank, wollten Marie und Sophie nicht dulden, dennoch überließen sie ihre Räume einmal feiernden Studierenden bis spät in die Nacht, die prompt aus dem Fliederbusch eines frommen Nachbarn Kleinholz machten.

Reusten, gerade einmal zehn Kilometer von Tübingen entfernt, hat auch heute noch kaum mehr als 900 Einwohner. Das kleine Café auf dem Kirchberg wurde durch Marie und Sophie Haupt weithin bekannt. Von prominenten Professoren wird gemunkelt, die sich dort Kaffee und Kuchen servieren ließen. Ein anderer, gern gesehener Gast im Bergcafé war Jörg Lang, Rechtsanwalt und Verteidiger der ersten RAF-Generation.

Als Christa Hahn-Haupt, die Nichte von Marie und Sophie, 1993 ein Buch veröffentlichte, in dem sie die Geschichte ihrer Tanten erzählt, schrieb Jörg Lang das Vorwort. Er war es auch, der 1985 die Trauerrede auf Kurt Kamer hielt, den langjährigen Begleiter der Schwestern, ihren unermüdlichen Helfer. Kamer war 1939 in den Krieg geschickt worden und mit einem Kopfdurchschuss aus Stalingrad heimgekehrt. Aus dem Hitlerjungen wurde in den 1950er Jahren ein erbitterter Gegner der Wiederaufrüstung; viel später dann reiste Kurt Kamer gemeinsam mit Sophie Haupt nach Moskau.

Daniel Schürer mag Kittelschürzen und Überraschendes.

Ob irgendwann einmal auch Mitglieder der RAF zu den Gästen im Bergcafé Reusten gehörten? Es scheint wahrscheinlich, lässt sich aber nicht belegen. Fest steht, dass die Polizei dort, wo der Anwalt verkehrte, auch dessen Klienten vermutete. Eines Tages erschienen Fahnder auf dem Kirchberg mit Maschinengewehren, und Sophie Haupt musste sie zu einer kleinen Hütte weit hinterm Bergcafé führen, die verdächtigt wurde, als Versteck zu dienen. Die Fahnder trafen niemanden an.

Die Hütte steht noch, am selben Ort, 300 Meter abseits des Bergcafés an einem Hang, der steil abfällt in den Kochartgraben, ein Naturschutzgebiet, das sich von Reusten zum Nachbarort Hailfingen hinzieht. Gleich außerhalb des Blickfeldes, am Ende des Grabens, liegt der Steinbruch, in dem die Insassen des KZ-Außenlagers Hailfingen zur Arbeit gezwungen wurden; wenige hundert Meter weiter, in nordöstlicher Richtung, finden sich die Reste des Hangars, der zu diesem Lager gehörte. Dazwischen das Heim des Reustener Handballvereins, das verpachtet ist und in dem gelegentlich größere Feiern stattfinden.

Für Daniel Schürer ist die alte Hütte ein Haus auf der Grenze – zwischen scheinbar unberührter Natur und menschlicher Kultur, zwischen Geschichte und Gegenwart. Er hat sie saniert, hat eine große, einfache hölzerne Terrasse vor ihr aufgebaut, hat einen Wasserkessel angebracht und französische Rollseifen installiert, hat den sauberen, hölzernen Innenraum ausgestattet mit zwei Betten, verschiedenen Utensilien wie Kerzen, Taschenlampe, einem Moskitonetz und einer Flasche Whisky ("Mindestens 12 Jahre alt"). Dazu eine Hausbibliothek mit zerlesenen DTV-Ausgaben von Klassikern wie Jean Paul, Charles Dickens oder Daniel Defoe. An der Seite des Häuschens lockt eine alte Leuchtreklame, die nicht leuchtet, da es elektrischen Strom nicht gibt. "Hotel Weisses Rössl" steht auf ihr. "Zimmer frei".

Das "Weisse Rössel" lädt ein zu naturnahem Schlaf.

Wer möchte, der kann hier eine oder zwei Nächte verbringen, auf kurze Zeit zum Einsiedler werden und, wenn er es denn muss, die 300 Meter Fußweg zur Toilette des Bergcafés zurücklegen. Daniel Schürer hat das "Hotel Weisses Rössl" konzipiert als Selbsterfahrungstrip für Gäste und als Kunstwerk. Zusammen mit dem Bergcafé und dem Süddeutschen Kunstverein Reusten sieht Schürer das Hotel als eine soziale Plastik im Sinne von Joseph Beuys. "In meinen Arbeiten", sagt er, "wie sie auch geartet waren, gab es immer einen Zusammenhang von Essen, Trinken, Übernachten."

Schürer wurde geboren in Biberach, arbeitete im italienischen Imperia, in der portugiesischen Hafenstadt Porto, in Hildesheim, Weimar, Brüssel, ehe er nach Reusten kam. Er baute kunstvoll konfessionsfreie Kapellen, Kokons aus hölzernen Lamellen, ganz diesseitige Andachtsräume, lud die Besucher:innen seiner Kunstaktionen ein, Nächte in Zelten oder alten Bahnhofshallen zu verbringen. In Hildesheim lernte er Hanna Hahn kennen, die Großnichte von Marie und Sophie Haupt; die beiden heirateten und kamen 2008, eine junge Familie schon, zum ersten Mal nach Reusten. Daniel Schürer gründete den Süddeutschen Kunstverein in einem alten Stall, den er nahezu in seinem Ursprungszustand beließ.

Dort zwischen den Futtertrögen für Kühe und Schweinekoben waren seither zahlreiche Ausstellungen zu sehen: Collagen, Bilder, Dokumente, Installationen, die gesellschaftliche Rollenbilder befragten, Geschichte und Gewohnheiten. Daniel Schürer selbst stellte beispielsweise Schokoladentafeln aus und Fotografien des königlichen Gewächshauses in Brüssel, begleitet von Informationen zu den Gräueln der belgischen Kolonialherrschaft in Afrika; er gestaltete Ausstellungen mit Fundstücken aus unterschiedlichen, auch privaten Lebenszusammenhängen. Immer wieder lenkt er in seinen Arbeiten den Blick aufs Alltägliche, das so selbstverständlich plötzlich nicht mehr scheint. Und er lädt Gäste ein, befreundete Künstler:innen, gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Werke zu präsentieren.

Die Kittelschürze erspart das Nachdenken übers tägliche Outfit.

Noch liegt in der Galerie, die ein Stall war, ein Stapel quadratischer weißer Blätter aus, die Daniel Schürer zu transportablen Tanzflächen deklarierte. Im Frühjahr 2021 begann er, über dem Bergcafé Fahnen zu hissen, gestaltet von ihm selbst oder von anderen Künstler:innen: rätselhafte Symbole oder Danksagungen an das Leben. Im Frühjahr 2022 dann hängte er 350 Kittelschürzen auf den Reustener Kirchberg, hielt Vorträge über deren Schönheit und Nützlichkeit, über die Erotik der Kittelschürze. Ein Kleidungsstück, das von Generationen emanzipierter Frauen geschmäht wurde, verwandelte sich wieder in eine diskussionswürdige, vieldeutige Errungenschaft. "Die Kittelschürze", schwärmt Daniel Schürer, "hat etwas unglaublich Puristisches. Ich muss mich nicht jeden Morgen fragen: Was ziehe ich an? Mit einer Kittelschürze bin ich erhaben über alle Modetrends. Es gibt schöne Schürzen und hässliche, aber selbst die hässlichen haben oft mehr als manches Kleidungsstück, das ausgesucht in Schränken liegt."

Das "Hotel Weisses Rössle" entstand noch ehe die Pandemie den Rückzug attraktiv machte. Daniel Schürer hat es als einen offenen Raum konzipiert, den jeder nutzen, auf dessen Terrasse sich jeder niederlassen kann, wenn sich nicht gerade ein Eremit dort eingemietet hat und ein Schild am Gartentor hängt, auf dem steht: "Belegt für Studienzwecke". Das Hotel steht unfern von höchst privaten Schrebergärten, will deren genaues Gegenteil sein. Und wer übernachtet auf der Terrasse des "Weissen Rössl", der wird still, beginnt zu lauschen, spätestens, wenn es dunkel wird.

Hier gibt es Grillen, Eichhörnchen, Vogelgezwitscher, kurz: Idylle pur.

Die Grille, die in einem der Bäume am Abhang sitzt, arbeitet bis tief in die Nacht so fleißig und nicht leiser als der Nachbar mit dem Winkelschleifer daheim in der Zivilisation. Irgendwo wird ein leises Scharren laut, irgendwo trappelt es, im Holzscheit hinter der Hütte gräbt ein Tier. Plötzlich schlägt nicht weit entfernt eine Tür zu. Der Lärm der Autobahn, die zwei Kilometer westlich auf einer Brücke übers Naturschutzgebiet geleitet wird, dröhnt manchmal aufdringlich durch die Nacht, ist dann wieder kaum zu hören: Der Wind hat sich gedreht. Lange nach Mitternacht wird die Stille tiefer, scheint auch die Natur zu schlafen. Mager klingt der Schlag einer einzelnen Glocke aus dem Tal herauf. Der Hotelgast schließt die Augen, öffnet sie, und der Morgen ist da: Die Vögel werden laut, ein Eichhörnchen poltert übers Hoteldach, hängt für eine Sekunde in einem Baum, verschwindet. Und am Gartentor steht bald schon der Hotelier Daniel Schürer, heiter und bescheiden, überbringt eine Schale mit puristischem Getreidebrei, dekoriert mit frischen Beeren.

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